Ich war nicht erschrocken gewesen, erst jetzt, als der Mönch in der Mitte das sagte, erschrak ich, wie ein Augenzeuge, der den Tatverdächtigen glasklar wiedererkennt. Mir wurde schwindelig, ich machte einen Schritt nach rechts, nicht weil mich irgendetwas von außen oder innen anrempelte, sondern weil ich, als der Mönch in der Mitte „Guten Abend“ sagte, ahnte, dass er das ganze großflächige Leben in einer einzigen Bewegung umdrehen würde. (S. 131)
In einem nigerianischen Sprichwort heißt es, es brauche ein ganzes Dorf, um ein Kind zu erziehen. Im Fall von Luise und Martin, die in den Achtzigern in einer winzigen Dorfgemeinschaft im Westerwald aufwachsen, ist dies unbedingt zutreffend. Was die Ehrziehungsberechtigten der beiden an Zuwendung, Aufmerksamkeit, Empathie, Lebenspraxis und -weisheit vermissen lassen, wird durch die übrigen Dorfbewohner*innen wettgemacht. Luises überlebensgroße Großmutter Selma, die wie Rudi Carell aussieht, ist Lakonie in Reinform und Herz und moralischer Kompass des Dorfes. Der belesene und von inneren Kritikern geplagte Optiker, heimlich seit Jahrzehnten in Selma verliebt, schafft es, scheinbar unzusammenhängende Dinge des Lebens in Beziehung zu setzen. Die depressive und nihilistische Marlies lebt vor, wie man die eigenen Grenzen verteidigen kann. Psychoanalytiker Doktor Masche (Markenzeichen: knarzende Lederjacke). Elsbeth, die abergläubische. Alberto, der Eisverkäufer und Metaphernlieferant.
Ein ganzes Kaleidoskop mehr oder weniger liebenswerter, überraschend unspießiger, humorvoller Figuren hat Mariana Leky in ihrem Roman entworfen und wie in einer Familienaufstellung rund um die Protagonistin positioniert. In Luises skurriler Lebenswirklichkeit scheint die Welt nach eigenen Gesetzmäßigkeiten zu funktionieren: Wenn sie lügt, fallen Gegenstände zu Boden; und jedes Mal, wenn Selma von einem Okapi geträumt hat, ist in den darauffolgenden 24 Stunden jemand aus dem Dorf gestorben. Was macht es mit den Menschen, wenn es jeden jederzeit treffen könnte? Welche Wahrheiten sprechen sie aus, welche Entscheidungen bereuen sie? Was verändert der Tod im Leben derer, die mit dem Verlust weiterleben müssen?
Wieviel Schmerz lässt sich externalisieren, wie viel Welt hereinlassen?
Was man von hier aus sehen kann ist ohne Zweifel ein berührendes Buch über den Tod und die (beinahe) Unmöglichkeit der erfüllten Liebe, eines dieser Bücher, bei denen im letzten Drittel die Brust beim Lesen schmerzt, der Hals sich zuzieht, man sich fragt, warum man sich emotional so quälen muss, und dennoch unter Tränen rastlos zu Ende liest.
Seine Magie macht für mich dabei weniger der Plot aus als vielmehr seine eindringliche, rhythmischen Sprache und seine bildhafte Beschreibung der verzagten, »verstockten«, in sich gefangenen, von inneren Stimmen »angerempelten« Gedanken- und Gefühlswelt seiner Figuren, insbesondere Luises und des Optikers. In Gefühlsbeschreibungen überschreitet Leky zwar hin und wieder mit einem Fußbreit die Grenze zum Kitsch, was ich ihr jedoch gerne verzeihe, weil sie es bewundernswert unprätentiös schafft, ihre Handlungsfäden und Sprachspiele elegant in ein stimmiges Gesamtkunstwerk voller Selbstbezüge zusammenzuknüpfen.
Der Roman ist in meinen Augen nicht perfekt – zu sehr störte mich dann doch die betonte Schrulligkeit und Skurrilität der Nebenfiguren, die Überstrapazierung der Reisemetaphern. Aber er ist warmherzig, lebensklug und so tröstlich wie eine lange Umarmung auf der Türschwelle, ein Kuss auf die Stirn nach einer Beerdigung, die Erinnerung an einen Waldspaziergang in der Kindheit.
Bibliografie
Das Urteil in Zahlen
Der erste Satz
Wenn dieses Buch eine Farbe wäre, dann wäre es
#d9ff66
Wenn dieses Buch ein eine Playlist wäre, so würde sie aussehen
Serviervorschlag
Auf einer Waldlichtung, mit den Zehen im Boden.
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