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Die Abwesenheit von Zukunft: Mark Fishers Gespenster


Not only the future has not yet arrived, it no longer seems possible. (S. 21) 

Mark Fisher kann man nicht lesen und dabei nicht trauern. Den Gedanken daran, dass er vier Jahre nach der Erstveröffentlichung von Ghosts of my life Suizid begangen hat, kann ich bei der Lektüre nicht abschütteln, er sitzt mir im Nacken, er beklemmt. Ich denke darüber nach, wie absurd und ironisch es doch ist, ein Buch über lost futures zu lesen, dessen Autor entschieden hat, auf die Möglichkeiten alternativer Zukünfte zu verzichten. Das Gefühl, das sich breit macht: Wie gerne hätte ich noch mehr von ihm gelesen, wie erhellend wären seine Analysen unserer Gegenwart gewesen. Aber nun Tacheles:

Ghosts of my life, olivgrüner Umschlag, 232 Seiten, vier Abschnitte, 26 Kapitel. Es geht um Gespenster, aber auf eine 100% unesotherische Weise. Es geht um Depressionen, aber in ihrer gesellschaftspolitischen Dimension. Es geht um Kulturkritik – Musik, Filme, Serien, Bücher – aber die Linse der Kritik ist eine philosophisch-psychoanalytische. Warum ist die populäre Musik der Gegenwart so wenig innovativ (und oftmals: so schlecht)? Was ist der Unterschied zwischen Depression und Melancholie? Was hat retro Science Fiction mit der verlorenen Zukunft zu tun (und was ist eigentlich aus dem Modernismus geworden)? Wie lässt sich Nostalgie definieren? Gibt es eine musikalische Verbindung von Kanye West zu Joy Division (spoiler alert: natürlich!)? Was genau macht Kubricks »The Shining« so unheimlich (und was hätte Freud dazu gesagt)? Was ist der rote Faden zwischen den Romanen von David Peace, John Le Carré und Christopher Priest und den Filmen von Chris Petit und Christopher Nolan? Wie »meta« ist das Kratzen von Vinyl als Soundeffekt? Und was hat Jimmy Savile mit alldem zu tun? 

Das Buch enthält eine Textsammlung von Fishers philosophischen und kulturwissenschaftlichen Essays, Blogs, Interviews und Rezensionen aus den später 2000er und frühen 2010er-Jahren, die grob von der thematischen Klammer der hauntology zusammengehalten werden. Den Begriff, das »puncept« (pun intended!) der hauntology entlehnt Fisher bei Jaques Derrida (an dessen Dekonstruktivismus er ansonsten einiges auszusetzen hat), welcher ihn in seinen «Specters of Marx” entwickelte. 
Die Idee der hauntology beschreibt, sehr verkürzt gesagt, dass die Vergangenheit (und insbesondere ihre Konzepte und Versprechungen von der Zukunft) in Form von Gedanken, Gefühlen, Kultur, sozialen Realitäten – metaphorisch in die Gegenwart »hineinspuken«. 
Klingt erst mal ziemlich abstrakt? Ja, aber: Fisher gelingt es, mit zahlreichen Beispielen und Verweisen klar und nachvollziehbar nachzuzeichnen, dass die lost futures sich politisch, sozial und kulturell sehr wohl auf unsere postmoderne Gegenwart auswirken. Eine in seiner Argumentation zentrale Definition stammt vom schwedischen Philosophen Matrin Hägglung: 

»What is important about the figure of the specter, then, is that it cannot be fully present: it has no being in itself but marks a relation to what is no longer or not yet«. (»Radical Atheism: Derrida and the Time of Life«).

Die metaphorischen Geister sind also zu verstehen als etwas das handelt, Einfluss nimmt, ohne physisch zu existieren – womit wir dann auch bei Marx (das «Gespenst des Kommunismus«) und Freud (den Auswirkungen der frühesten Kindheitserlebnisse auf das gegenwärtige Fühlen und Verhalten) angelangt wären. Ohnehin geizt Fisher nicht mit Verweisen auf andere (linke) Theoretiker*innen, jedoch ohne ins unangenehme namedropping abzurutschen. Das namedropping übernehme ich an dieser Stelle gerne stellvertretend: Franco ‚Bifo‘ Beradi, Jaques Lacan, Arthur Schopenhauer, Jean Baudrilliard, Wendy Brown (von der die wunderschöne Definition der left melancholia stammt, die Fisher in seinem einleitenden Essay ausbreitet und – gemeinsam mit Paul Gilroys postcolonial melancholia – von der hauntology abgrenzt) und viele weitere bereiten seiner kulturwissenschaftlichen Analyse ein solides Fundament und können geneigten Leser*innen als Ausgangspunkt für weitergehende Studien dienen.

»Why did the arrival of neoliberal, post-Fordist capitalism lead to a culture of retrospection and pastiche?« (S. 14)

Und obwohl Fishers Antwort auf diese Frage extrem einleuchtend ist (ich möchte sie hier nicht vorwegnehmen), die noch interessantere und spannendere Frage ist doch, ob es dennoch kulturelle Artefakte gibt, die sich der Zukunftslosigkeit widersetzen, die aus der Sehnsucht nach der nie da gewesenen Zukunft schöpfen?
Nach dem starken philosophischen Auftakt im ersten Abschnitt war ich zunächst enttäuscht, dass es nicht im gleichen Tenor weitergeht. Der Hauptteil des Buches durchkämmt stattdessen die Popkultur nach Beispielen für hauntologische Kunst und ist stilistisch und formal sehr heterogen. Die Tatsache, dass Mark Fisher einfach wahnsinnig gut schreiben kann, kommt in jeder Textgattung zur Geltung und hält Lesende bei der Stange. Ob die (in jedem Sinne) erfolgreiche Dekonstruktion von Japans »Ghosts«, der Streifzug durch das Genre des darkside jungle, die Interviews mit Tricky, Burial und The Caretaker oder die dramenhaft/lyrische, geradezu perfekte Analyse von »The Shining«; es macht Spaß, ihm zu folgen.
Es macht auch Spaß, den roten Faden – die hauntology, das Geisterhafte, das Melancholische, das Kapitalismuskritische immer wieder verloren zu glauben und ihn dann – unerwartet – im übernächsten Satz wieder zu finden und aufzunehmen.

Wer nur einen Grund sucht, Ghosts of my life in die Hand zu nehmen: Ich habe noch nie einen so guten Text über Joy Division gelesen (welcher als Zugabe auch noch eine der besten Analysen der »depressive experience« beinhaltet). Alleine für dieses Kapitel lohnt es sich. 
Und: Ich habe endlich das Ende von Inception verstanden.

Bibliografie

Mark Fisher
Ghosts of my life
Writings on Depression, Hauntology and Lost Futures.
Zero Books, 2014 Winchester, UK
232 Seiten
ISBN 978-1-78099-226-6

Das Urteil in Zahlen

Plot: n/a
Sprache: 8/10
Tiefe: 8/10

Der erste Satz

»There’s no time here, not anymore«.

Wenn dieses Buch eine Farbe wäre, dann wäre es

#2b2e33


Wenn dieses Buch ein eine Playlist wäre, so würde sie aussehen:

Ghosts – Japan
Inner City Life – Goldie
Aftermath – Tricky
She’s Lost Control – Joy Division
U Hurt Me –Burial
In a Lonely Place – New Order
Overcome – Tricky
Ghosts of my Life – Rufige Kru
Broken Home – Burial

 

 Serviervorschlag

1. In einem Kaffee im Weltraum, hinter dessen Fenstern das blanke Nichts wartet.
2. Im Bett, wenn gar nichts mehr geht.

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